PRESSE
PRESSE EMPIRE OF FLORA
Michèle Murrays leuchtende Beharrlichkeit beim Tanzfestival Montpellier Danse
02. Juli 2022 | Von Gerard Mayen TOUTE LA CULTURE
Intelligenz der Komposition und Intelligenz der tänzerischen Performance durchleuchten EMPIRE OF FLORA, das neue Stück der Choreographin aus Montpellier.
Jean-Paul Montanari, Leiter des Festivals Montpellier Danse, zählt zu den Bewahrern der großen Cunningham-Tradition und würdigt den gründenden Einfluss des New Yorker Meisters auf eine große Nachfahrengruppe des westlichen zeitgenössischen gelehrten Tanzes. Man kann sich vorstellen, dass dies in seiner Verbundenheit mit der Arbeit von Michèle Murray eine Rolle spielt. Die erfahrene Choreographin ist gebürtige Französin und Amerikanerin und hat ihre Ausbildung unter anderem bei Merce Cunningham absolviert. Heute entwickelt sie von Montpellier aus (einer Stadt, die nicht weniger als zwanzig bedeutende Kompanien zählt) eine Arbeit, die allen Modeerscheinungen gegenüber herrlich gleichgültig ist.
EMPIRE OF FLORA ist ihr neuestes Werk, das sie für die 42. Ausgabe des Festivals Montpellier Danse geschaffen hat. Auf der Bühne steht eine Frau am Musikdeck und vier Männer auf der Bühne. Wir stimmen Michèle Murrays Kommentar dazu voll vollkommen zu: „Diese Aufteilung wurde nicht bewusst als solche gedacht (nach Gender- oder anderen Thematiken); auch wenn diese Lösung im Nachhinein glücklich erscheinen mag“.
Dieses Zitat scheint uns auf subtile Weise mit einer Gesamtlogik dieser Arbeit zusammenzuhängen: EMPIRE OF FLORA scheint wunderbar bemeistert, auf dem Höhepunkt einer intelligenten Komposition. Aber genauso gut ergibt sich daraus eine einfach strahlende und unbeschwerte Textur.
Die Komposition, von der wir gerade sprechen, verwebt zwei Prinzipien, die man für gegensätzlich halten könnte: einerseits die Festlegung von sehr genauen Regeln in einem vordefinierten choreografischen Feld, andererseits den Spielraum für ständige Instant Composition überlassen.
Wenn wir auf Merce Cunningham zurückkommen, erinnern wir uns an seine Aussage, dass er es vorzieht, auf der Bühne Vorrichtungen zu entfalten, die es der Schönheit der Welt ermöglichen, sich zu offenbaren, und nicht versucht, auf der Bühne Formen aufzuzwingen, die die Schönheit darstellen sollen.
Das ist es, was man in EMPIRE OF FLORA spürt, und das liegt an der feinfühligen Intelligenz der tänzerischen Interpretation (und damit auch an der tänzerischen Leitung), die dieser Choreografin eigen ist. Sie betont gerne das große Vertrauen, das die künstlerisch sehr reife Beziehung zwischen den vier jungen Männern und ihr selbst kennzeichnet.
An diese Tänzer richtet sich eine hohe Anforderung an technische Ausführungsqualität, während ihnen gleichzeitig eine große Verantwortung bei den choreografischen Entscheidungen der Instant Composition zukommt. Sie müssen sich sehr geduldig in die Textur des Stücks hineinbegeben und immer wieder lange Pausen einhalten. Sie kreieren und führen das Stück, aber sie lassen es auch leben. Es gibt keine spektakuläre Überbetonung, die so viele andere Tanzstücke überladet und damit die Beziehung zu den Zuschauern, die einer vorhersehbaren Emotion unterworfen sind, in die Enge treibt.
Die großzügigen und energievollen Bewegungsabläufe werden dennoch mit einer großen Leichtigkeit der Schwerkraftverwaltung entfaltet. Die Gesten haben Zeit, für sich selbst zu sein. Der Großteil der Partituren wird individuell getanzt – abgesehen von einigen Ansätzen in Duetten sowie Hebefiguren – in einem aufrechten Tanz, sowie in einem kollektiven, irgendwie kosmischen Bewegungsfluss. Dieser Tanz ist klar zu verstehen, ohne geschwätzig zu sein … Das Wesentliche liegt in der aktiven Ko-Präsenz von Personen, die einfach nur die Feinheit einer Tanzsprache entwickeln. Weiteres zu erklären ist nicht notwendig.
Die Beziehung zur Musik hat viel damit zu tun. DJ Lolita Montana, die aus der brodelnden Technoszene der Region stammt, legt ein wunderbar schwereloses Set auf, das frei von jeglichen Klischees ist, auch wenn die engagierten Sounds naturgemäß zu einer strahlenden Energie inspirieren. Die vier Tänzer nach dem guten Cunningham-Prinzip nicht die Aufgabe, die Musik nachzuahmen. Sie gehen zwar auch den Weg einer allmählichen, asymptotischen Erhöhung, aber diese ist in erster Linie eine breite, durchscheinende und respektvolle Atmung.Bei EMPIRE OF FLORA hatten ich das Gefühl, dass diese Ästhetik etwas von der Zeit, ja sogar von der Welt abgeschnitten lebt, wie in einem Garten der Eleganz gepflegt. Aber in einer Tanzlandschaft, die so sehr damit beschäftigt zu sein scheint, sich selbst zu suchen, ohne sich zu finden, erschien uns diese Form der Distanz am Ende doch unendlich treffend, beharrlich und kaum ersetzbar.
Jean Paul GUARINO – Revue OFFSHORE – JULI 2022
Neben WILDER SHORES, ihrem bereits erfolgreichen Stück aus dem Jahr 2020, beweist Michèle Murray mit ihrer jüngsten Kreation EMPIRE OF FLORA ihre nach wie vor starke Verbundenheit mit der choreografischen Kunstform und eine respektvolle Emanzipation von ihrer Geschichte.Die DJ betritt die Bühne und legt hinter ihren Plattenspielern gleich zu Beginn einen Rhythmus aus anhaltenden Elektroschleifen vor, als wolle sie Tänzer und Zuschauer in Stimmung bringen und so etwas wie einen Spannungsbogen aufbauen. Aber was werden die Tänzer bloss zu einer solchen Musik machen, die nichts braucht, um bereits eine unwiderstehliche Energie zu übertragen?
Zwei Stücke später erscheint ein Tänzer, dann ein zweiter, dann ein dritter und vierter, lässig, als wollten sie dem musikalischen Rhythmus widersprechen, als wollten sie ihn zähmen, beherrschen, sich ihm zumindest nicht unterwerfen. In einer Stimmung des Warm-ups erweist sich der Kontrast zwischen der schwingenden Energie der Turntables und der verhaltenen Energie der Tänzer als sinnlich. Wir befinden uns nicht auf einem Dancefloor, der Wunsch, sich zu entfesseln, alles loszulassen und sich auf ein gemeinsames Ziel zuzubewegen, muss warten. Sie werden sich sparsam geben, mit gemessener Kraft, in einem tänzerischen Oxymoron.
Regeln, die man vermutet, werden eingehalten, schnell vergessen oder sogar übertreten, das Verlangen gehorcht nichts, jeder Tänzer hat seine eigene ungezügelte Linie, sein eigenes barockes Vokabular, seine eigene Geschichte. Es entstehen auch Ansätze von Duos, genauer gesagt von Paaren, da die Begegnungen perfekt sind und weder etwas Vereinbartes noch etwas Zweideutiges beinhalten, alles ist nur für den Tanz geschaffen. Michèle Murray liebt den vielfältigen Tanz, und dieser ist liebevoll choreografiert. Es gibt auch Pausen, um jede Narration zu vermeiden und bei ihrem Thema, dem Tanz, zu bleiben. Bis zum Ende hält die Körperbeherrschung, die einer Komposition unterworfen ist, die keine Syntax zu haben scheint, aber ihre eigene Logik besitzt, dem Überschwang und der vitalen Lyrik des musikalischen Strudels stand, um ihre eigene Kraft besser durchzusetzen, bis zum Gegenlicht, bis zur einbrechenden Nacht.
RES MUSICA / 2. Juli 2022 von Delphine Goater
Festival Montpellier Danse : Thema ‘clubbing or not clubbing’
Zwei Säle, zwei Stimmungen, Reminiszenzen an Clubbing und Party, beim Montpellier Danse Festival, mit 2019, Ohad Naharins Kreation für die Batsheva Dance Company, und EMPIRE OF FLORA von Michele Murray. Michele Murray bringt das Maskuline in den Club.Für EMPIRE OF FLORA, ihre neue Kreation beim Festival Montpellier Danse, hat die französisch-amerikanische Choreographin Michèle Murray, die seit mehreren Jahren in Montpellier lebt, auf der Bühne des Theaters La Vignette ein Männerquartett mit einem DJ-Set der jungen Lolita Montana konfrontiert. Jeder bewegte sich in seinem eigenen Universum, und die Begegnungen zwischen Tanz und Musik ergaben sich beiläufig, durch einige Unisonos oder bei einer plötzlichen Beschleunigung.
Vier sehr gute Tänzer, vier verschiedene Männlichkeiten auf der leeren Bühne. Mit großer Aufmerksamkeit für jede Geste, Bewegungsqualität und feliner Energie messen sich die vier Tänzer, treten gegeneinander an und vergleichen sich, wie bei einer Modenschau. Neben ihnen mixt die DJane ein Set, dessen Intensität zunächst ansteigt und dann wieder abnimmt. Es liegt eine gewisse Eitelkeit in dieser faszinierenden Parade der männlichen Äußerlichkeiten, von der Pose bis zur Haltung. Doch Michèle Murray gerät nicht in diese Falle, sondern hält die Lupe in unerschütterlicher Objektivität auf die einzige Bewegung gerichtet.
MARIE REVERDY – SPINTICA – Juli 2022
Nach WILDER SHORES, das bei der 41. Ausgabe des Festivals Montpeller Danse gezeigt wurde, setzt Michèle Murray ihre Arbeit ausgehend von den Gemälden des Malers Cy Twombly fort. In „Empire of Flora“ (1961) ist die Farbe Rosa vorherrschend. Man spürt auf der Bildfläche die Spuren der feurigen und warmen Geste des Malens. „Empire of Flora“ ist auch der Titel eines Gemäldes von Nicolas Poussin (1631), das sich auf eine Allegorie des Frühlings und der Fruchtbarkeit bezieht, die in der griechisch-römischen Mythologie verwendet wird.Cy Twombly und der wuchernde Frühling
Alles beginnt mit der rosa beleuchteten Bühne und der Live-Musik von DJ Lolita Montana, deren Decks rechts auf die leere Bühne gerichtet sind. Der erste Tänzer kommt herein. Er arbeitet vor allem an der Bewegung seiner Arme, eine offene, weite Bewegung; auch erkennt man an den Füssen eine 5. Position, die einige Male auftaucht, wie ein augenzwinkernder Verweis auf die klassische Balletausbildung, die Michèle Murray in Düsseldorf absolviert hat. Der Tänzer bewegt sich auf der horizontalen Achse, dreht seinen Oberkörper, als wolle er die Gesamtheit des Hier und Jetzt umfassen, und wird von den anderen Tänzern, die nacheinander auftreten, begleitet.
Eine Tanzfläche, auf der es verboten ist, sich zu berühren, eine Tanzfläche, auf der jeder den Bewegung sablauf erkundet, eine Geste wiederholt, eine choreografische Phrase skizziert, bevor er einen Diskurs entfaltet. Eine Tanzfläche auf der man Solo alleine für sich tanzt, bevor einige Blicke ausgetauscht werden (ohne diesen Austausch zu spielen), bevor einige Unisonos entstehen (ohne dass wir den Eindruck eines Rendezvous haben) und schließlich bevor einige Duetts entstehen (ohne dass diese als Apotheose des Frühlings dargestellt werden). Das Stück wimmelt von choreografischen Details, die in die Körper und in den Raum eingeschrieben sind. Blitzartige Referenzen scheinen aus der Lebendigkeit der Körper hervorzugehen. Alles scheint ebenso millimetergenau wie zufällig zu sein, ganz im Sinne von Jacques Monods Definition des Lebens, das zwischen „Zufall und Notwendigkeit“ entsteht. Dieses Stück hat etwas Jubelhaftes, etwas Unbeschwertes an sich. Der Frühling hat nicht die Gestalt einer Landschaft, er hat keinen Geruch, er hat kein Gesicht, er ist ein widersprüchlicher Zustand, irgendwo zwischen Macht und Anmut angesiedelt.
PRESSE WILDER SHORES
Danser Canal Historique / Thomas Hahn / 25 September 2020
Montpellier Danse 40bis : “ WILDER SHORES “ von Michèle Murray
Von Merce Cunningham bis Cy Twombly, unberechenbare Wege für sieben Tänzerinnen und Tänzer zwischen Lust und Disziplin.
Bei Michèle Murray, die in New York, insbesondere bei Merce Cunningham, ausgebildet wurde, findet die Suche nach dem großen Merce ein begeistertes Echo. Und dies gilt insbesondere für Wilder Shores, wo sich sieben TänzerInnen in einem völlig offenen, freien und nicht-hierarchischen Raum bewegen, der weder Zentrum noch Peripherie kennt. Ein Punkt in diesem Raum ist ein Punkt, punkt. Der Performer kann sich also bewegen, wo immer er will. Zumindest scheint es so.Wildere Ufer? Versuchen wir nicht, diesen Titel zu verstehen. Er ist nämlich eine Utopie, ein glühendes Verlangen, ein Fantasieren, der in einem Gemälde von Cy Twombly eingeschrieben ist – Wilder shores of love-, dem wir uns besser durch Emotionen als durch eine forensische Analyse nähern.
Michèle Murray’s Wilder Shores drückt ebenso sehr die Kluft zwischen dem Wunsch nach Freiheit und der Welt aus, gegen die man sich erheben muss, um seinen wilden Anteil erfolgreich zurück zu gewinnen. Die siebe TänzerInnen liefern keinen Beweis dafür, dass sie eine solche Befreiung erreicht haben, und so bleibt dieses Stück so rätselhaft wie Twomblys Gemälde.Murrays neue Kreation dient in erster Linie dem Tanz, nicht der Rede, und das ist natürlich eine weise Entscheidung. Es ist besser, Zeuge eines zu erreichenden Ufer zu sein, als sich dort auszutoben. In dieser Logik zeichnet sich Wilder Shores durch absolute Strenge, unerbittliche Präzision und unfehlbare Disziplin aus. Und doch eröffnet die Präzision in Schrift und Ausführung Räume der Freiheit und vielleicht sogar ein paar Möglichkeiten für das Unerwartete. Das Prinzip des ’randoms’, des Zufalls also, hatte seine Bedeutung für Merce. In Wilder Shores begegnen wir dem, was die Choreografin „instant Composition“ nennt, wo alles im Moment erfunden zu sein scheint. Doch für den Zuschauer ist nichts sicher. Wenn zwei Tänzerinnen zusammenstoßen, ist das ein Unfall oder ein choreografiertes Ereignis? Wahrscheinlich eine vorhergesehene Möglichkeit, ohne dass diese zur Verpflichtung wird.
Einige Künstler choreographierten alltägliche Gesten. Cunningham erfand hingegen die unwahrscheinlichsten Bewegungen, bis hin zur Absurdität. Sein Vokabular ist sowohl ein Werkzeugkasten als auch eine Einladung, immer tiefer in unbekannten Vorgehensweisen zu graben. Für Murray, der es hier Spaß macht, diesen Werkzeugkasten aufzurühren, inspiriert er eine Fülle von Laufarten: ruckartig, gleitend, mit gebeugten Knien, an die Oberschenkel geklebte Hände für leichteres Drehen.
Alles beginnt mit dem ersten Tänzer, der in blauen Socken und mit ausgestreckten Füßen eintritt, um zu zeigen, dass das Universum des großen Befreiers immer noch seine Wurzeln im klassischen Tanz hat! Aber von da an kann alles umgewandelt und erfunden werden. Bei ihren scheinbar zufälligen Überquerungen der Bühne beobachten sich die Individuen und treffen aufeinander, von Angesicht zu Angesicht oder parallel. Sie stimmen sich aufeinander ein, die Zeit, um diese gemeinsame Energie aufzuladen und sich erneut auf den Weg zu neuen menschlichen Abenteuern zu machen. Und es funktioniert! Nach einem ersten Teil, in dem sich der Wunsch, den anderen zu berühren, nicht erfüllt, nach einer langen Pause, in der der Komponist Gerome Nox allein über den klanglichen und choreografischen Raum herrscht, taucht ein Paar auf und beginnt eine Recherche über Möglichkeiten der Unterstützung, die der andere bietet, Unterstützung durch seine Schenkel, seine Büste, seinen Rücken, wie in einem Versprechen von Liebesufern. Die Frau kann hier den Mann tragen, und sich natürlich auch von ihm tragen lassen. Auch hier lösen sich die Modalitäten von jeglicher Tradition. Am Ende des Stückes finden alle TänzerInnen wieder zusammen wie in einem Tanzkurs, als wollten sie sich auf neue Abenteuer vorbereiten, erneut, an Ufern, von denen sie hoffen, dass sie wilder sein werden…
OFFSHORE / Jean Paul GUARINO / 24. SEPTEMBER 2020
Wir waren dabei, und Sie? Montpellier Danse 40 Bis
Nach einer „Neu-Kreation“, dann einer Wiederaufnahme, ist es an der Zeit für eine aktuelle Kreation des Jahres 2020, die am Mittwochabend im Studio Cunningham in der Agora Premiere feierte, und zwar „WILDER SHORES“, die neueste Choreografie von Michèle Murray. Wir werden nicht über den Maler Cy Twombly sprechen, den Michèle Murray im Programmheft zitiert, um uns über ihren künstlerischen Ansatz zu informieren. Der Titel des Stückes, Hinweis auf die Arbeitsweise der Künstlerin, ist wahrscheinlich vor allem gewählt worden, um ihr Energie zu verschaffen, ihre Choreografie zu beflügeln, und noch weiter ihren anspruchsvollen Weg zu gehen. Und es funktioniert!
Und zwar gleich von Anfang an, sobald der erste Tänzer allein die Bühne betritt, ein zweiter hinzukommt, dann ein dritter, bis sieben TänzerInnen auf der Bühne kreisen und wirbeln! Sieben freie Elektronen, es sei denn, sie sind verloren, beleuchtet mit der Radikalität des eines kalten weißen Lichtes aus Weiß, Grün und Blau, eingehüllt in einem tiefen tellurischen Sound, der so stark ist, dass man weder ihren Atem noch die Landung ihrer zahlreichen Sprünge hören kann. Auch hier gilt wieder: alles für die Silhouetten, alles für die Körper, alles für den Tanz. Während in diesem „ersten Teil“ die Energie und das Charisma des kleinen Jimmy Somerville – eigentlich Baptiste Menard – auffällt, offenbart sich im darauffolgenden Teil ein großartiges Tänzerduo – Marie Leca und Alexandre Bachelard – umhüllt von einem lila Licht, in einer Atmosphäre à la Dan Flavin. Ein Farbton, den die Amerikaner lieben. Dieses Violett verwandelt sich dann in ein rohes Blau, das die Körper ein wenig mehr entblößt und die Schweißperlen blinzeln lässt. Die ganze Choreografie sagt uns, dass dies kein Duett ist, dass dies auch kein Paar ist; es zeigt uns vielmehr wie 1 plus 1 eigentlich 1 macht. Weil er es war, weil sie es war. Es ist wunderschön. Danach eine kurze Rückkehr in die Realität, um uns zu beruhigen oder zu trösten, um uns zu sagen, dass andere Begegnungen, alle Begegnungen, möglich sind. Es ist gut, wenn es gut endet.
L’ŒIL D’OLIVIER / Olivier Frégaville-Gratian d’Amore / 23. SEPTEMBER 2020
In ihrem jüngsten Stück war die in Montpellier lebende Michèle Murray dem Tanz von Dominique Bagouet noch nie so nahe wie heute. Das Tanzstück „Wilder Shores“ wird im Rahmen vom Festival Montpellier Danse am Tag nach der Wiederaufführung von „So Schnell“ gezeigt und hat alles, was einen entfernten Cousin ausmacht. Eindringliche Ähnlichkeit! Eine einfache Mauer aus gelben Steinen trennt die „Cunningham- Bühne“ vom „Agora-Theater“. Während die Choreografin Catherine Legrand am Tag zuvor der choreografischen Schrift von Dominique Bagouet neues Leben eingehaucht hat, erforscht Michèle Murray auf ihre Weise die choreografischen Wege zwischen Abstraktion und dem Bedürfnis, ihren Tanz und ihre Gesten in einer konkreteren Erzählung zu verankern. Inspiriert von „The wilder shores of love“, einem Bildwerk des amerikanischen Malers Cy Twombly, zeichnet die in Montpellier lebende Künstlerin ihren Weg nach, indem sie die Zeit dehnt, verschobene unübliche Bewegungen und iterative Gesten multipliziert, getragen von der Musik von Gerome Nox.
Eine ganz eigene Handschrift. In schwarzen Kostümen gekleidet, die mit dem weißen, makellosen Boden kontrastieren, dringen die sieben Tänzer in den Raum ein. Sie kommen einer nach dem anderen herein, verschwinden manchmal wieder, kommen heimgesucht zurück und stehen nicht still. Solo, Duett, jeder folgt seiner eigenen Partitur. Die Körper messen sich gegenseitig, suchen sich gegenseitig und ignorieren sich gegenseitig. Die choreografische Handschrift von Michèle Murray ist nicht linear. Sie setzt sich aus einer Vielzahl von Wörtern zusammen, die durch eine strenge Grammatik miteinander verbunden sind. Ausgebildet in der Arbeit von Merce-Cunningham, mag sie Bewegung um der Bewegung willen. Eine Bewegung folgt der anderen, manchmal überrollen sich die Bewegungen. Ihre choreografische Prosa ist, obwohl formal, üppig lebendig.
Lichtspiele. Ähnlich wie Begoña Garcia Navas im Stück „So Schnell“ beleuchtet die in Montpellier lebende Choreografin, unter Mitwirkung von Catherine Noden, den leeren Raum mit hellem Licht, sowie die Körper ihrer Tänzer, die Energie, die sie entfalten, um den Raum zu bewohnen und diesen imaginären Ufern an der Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit Leben einzuhauchen. Mit „Wilder Shores“ hat Michèle Murray ein komplexeres Werk geschaffen, als man ahnt. Nach dieser Premiere fehlt nur noch der Schliff, die Übung, um uns völlig mitzunehmen und zu verführen. Ein Stück im Werden!
ATLAS / STUDIES
Gerard Mayen / Danser Canal Historique, Juni 2018 / Montpellier Danse
„Atlas / Studien“ von Michèle Murray: Mit einer hervorragenden Besetzung an einem idealen Ort komponiert die Choreografin einen Atlas des Wissens und der Schalkhaftigkeit, ganz in Zeichen der heutigen Zeit. Im Studio Bagouet des „Centre Chorégraphique National“ von Montpellier wird nie Gewöhnliches gezeigt. Dieser Ort des Tanzes, der seinerzeit nach dem Choreografen Bagouet benannt wurde, hat die idealen architektonischen Voraussetzungen mit einer Bühne, bei der gleichzeitig das Publikum mit einbezogen wird. Es wirkt unglaublich stabil, weitläufig und ruhig. In diesem Ort kann alles möglich werden.
Man hätte nicht von einem angemesseneren Rahmen für das Stück ATLAS / STUDIES von Michèle Murray träumen können, welches auf Einladung des Festivals Montpellier Danse (38. Auflage) entstanden ist. Am selben Tag folgen zehn Studien aufeinander, die – in zwei Serien aufgeteilt – jede mit ihrer eigenen Dauer (keine länger als zwanzig Minuten) und in einer immer wieder neuen Konstellation von einer interessanten Gruppe von insgesamt sieben Tänzern gezeigt werden. Das Ergebnis ist eine breite Palette in der Anzahl (vom Duett bis zum Ensemble) und in den Genres. Diese Vorgehensweise erinnert an einem gemischten Kartenspiel. Die kurzen Pausen zwischen den Studien sind deutlich markiert, die Bühne zwischen jeder Studie ganz leer (und dem roh-samtigen dunklen Klang der Lichter von Catherine Noden überlassen). Zu Beginn jeder Studie treten die Protagonisten hervor und nehmen einen festen Platz auf der Bühne ein, meist in einer ruhigen frontalen und zentralen Position. Ab diesem Zeitpunkt beginnen Bewegungsvariationen, die sich langsam entfalten um sich dann mit den Verfahren der Kontamination oder Proliferation zu entwickeln. Dieses Engagement ist ein Ereignis. (..)
(…) Kommen wir auf den Tanz zurück. Nach dem oben genannten Prinzip der erfinderischen Erneuerung ist dieser oft fesselnd, manchmal berauschend. Jede Studie ist eine Gelegenheit, die Karten neu zu mischen. Dabei werden Kombinatorik, interrelationale Modi, Spielarten und die Aufteilung der Energieniveaus ständig erneut überdacht. Eine Entwicklung findet statt (…)Diese Qualität, in Verbindung mit der sehr starken Präsenz der Perfomer, bringt Spannung ins Spiel. Es passiert immer etwas, wenn Spannung im Spiel ist. Es ist unmöglich, die Fülle der Motive, Situationen, Techniken, die von diesen Tänzern verkörpert und dargestellt werden, wiederzugeben. Aber aus diesen Kompositionen geht eine spielerische Intelligenz hervor, die auch die Möglichkeit bietet, die Eigenschaften von physischen und moralischen Persönlichkeiten zu genießen, die so vielfältig wie präsent sind und ins Spiel gebracht werden. Wir könnten über „choreographische Persönlichkeiten“ sprechen, die diese Spiele schmücken, nicht ohne Theatralik.
Im Gegensatz dazu behauptet die Choreografin, einen „mentalen Zustand des Performers“ gesucht zu haben, in dem das Spüren wichtiger ist als das Ausführen einer geschriebenen Choreografie. Die PerformerInnen sollen „sein“ und nicht „spielen“. Die Improvisation, wie sie in fast allen Studien praktiziert wird, erfordert dies. Auch hier wurde das Ziel spannungsvoll erreicht. Man findet hier die Essenz des gegenwärtigen Geistes einer zeitgenössischen Interpretation. Der Blick wird dabei oft gefesselt.
Lise OTT, Montpellier Danse / Juni 2018
Wie erzählen Körper die Geschichte unserer Zeit? Wie verbinden sie sich mit der Welt? Die von Michèle Murray in Atlas / Studien gestellten Fragen sind auch Fragen des Tanzes und des Territoriums, des Gedächtnisses und der Mythologie. Die in Montpellier lebende Choreografin französisch-amerikanischer Herkunft, in Düsseldorf in Ballett und in New York bei Merce Cunningham in zeitgenössischer Technik ausgebildet, hat sich entschieden, die Ansprüche ihres abstrakten und narrativen choreografischen Komponierens mit einem Überdenken der aktuellen Tanzformen zu verbinden. Im Jahre 2012 definiert die Gründung von PLAY, eine Struktur, die offen für verschiedene künstlerische Ausdrucksformen, und die Projekte über Körper, Bewegung und Choreografie zusammenbringt, den Rahmen. Angelehnt an den „Bilderatlas“, eine Bildersammlung des Kunsthistorikers Aby Warburg, entwickelte sie das Projekt eines persönlichen choreographischen Atlas, der aus zehn kurzen Stücken besteht – die letzten drei davon speziell für Montpellier Danse choreografiert. Unabhängig voneinander, verankert im Rhythmus der vielfältigen Musik, einschließlich der Komposition von Gerome Nox, sind die jeweiligen Stückes das Ergebnis eines rigorosen und erfinderischen Improvisationsprozesses, der in der Lage ist, die Karten der Moderne neu zu mischen und sich von jedem Akademismus zu emanzipieren. Sie zeichnen den Atlas einer Choreografin, die in einem gänzlich originellen Marathon des reinen Tanzes engagiert ist. Diese Stücke, gefüllt mit Energie und Jubel, laden zum Erleben und Mitleben ein.